Donnerstag, 30. September 2010

Tausendsassa.


Dass Kleider Leute machen denkt man sich oftmals im Großstadtgefüge. Abgesehen von der aufflammenden Biedermeierkultur und dem Wunsch nach stützenden Werten, ist das Leben, wie schon in Kleists Novelle dargestellt, eine aus Ereignissen bestehende Landschaft, ein Gewühl aus Erwartungen, Unklarheiten, Verwechslungen. Kurz: Ein Soziotop, das nicht nur lebt von realem Tun, sondern vor allem von künstlich Stilisiertem.Wir kennen das Reale in unmittelbarem Umfeld – und strecken uns  nach dem Hauch des eigentlich Ungreifbaren, weil er im guten alten American Dream Denken womöglich gar nicht so weit weg ist.
Die amerikanische Marke American Apparel (AA) ist so ein Fall, in welchem Schein und Sein wie ein Möbiusband miteinander verknüpft sind. Das Unternehmen und seine Geschäftsphilosophie des American Way of Living samt Attributsiegel „freiheitsliebend, szeneaffin, einzigartig“, hat seit seiner Geschäftsgründung im Jahr 1997 unzählige Anhänger. Ob in New York, Paris oder London – auf den Straßen der Welt tummeln sich Junge wie Alte in den für AA so typischen Schnitten. Die Marke ist dort zu sehen, wo kreative Köpfe werkeln und Arbeit und Lifestyle ineinander übergehen.
AA steht für Fairness innerhalb des martialischen Uhrwerks namens Kapitalismus. Sweatshopfreie Kleidung, faire Löhne, Umweltschutzengagement oder Partizipation in der Immigrantenpolitik.
Es gibt kaum einen Bereich, in dem das Unternehmen nicht seine Kultur verankert. Ein fairer Riese also?
Dreh – und Angelpunkt des Lifestylekonglomerates ist Gründer Dov Charney. Der Terry Richardson Verschnitt steht für die Lockerheit und Dynamik der Globalisierung. Gekürt als Unternehmer des Jahres, expandierte seine Modemarke in über 19 Länder. Charney katapultierte AA mit seiner Mischung aus ethischem Bewusstsein und kalkulierter Unternehmergier in die Zone  eines zukunftsfähigen Moderiesens.
Doch der sonst so soziale Unternehmer Charney hat seit jeher noch einen anderen Ruf. Bereits mehrmals wurde Charney wegen sexueller Belästigung  von Mitarbeiterinnen angeklagt, weil sein Hang zur liberalen Sexualmoral innerhalb des Unternehmens – unter anderem der öffentlichen Masturbation – auf Grenzen stieß. Hinter den Kulissen in L.A. hängt die Glücksfeder also längst nicht mehr, die Fassade bröckelt seit geraumer Zeit. Steigende Preise, kaum Saleangebote, und die nicht wenig kursierende Meinung, dass AA zu sehr in den Mainstream abrutscht. Doch vor allem, weil die Gründerfigur nun existenzielle Probleme hat: Das Konstrukt American Apparel steht in den Miesen. Wie diverse Zeitungen bereits vor ein paar Wochen berichteten, sei die Liquidität des Unternehmens für die nächsten zwölf Monate womöglich nicht gewährleistet. Von dem im Jahr 2009 erwirtschafteten Umsatz von rund 560 Millionen Dollar blieb nur ein Gewinn von einer Millionen Dollar. Hat Mister Charney sein Prestigeobjekt gegen die Wand gefahren? Hat er das Konstrukt American Apparel zu sehr ausgereizt, und dem ökonomischen Zeitlauf mit geschlossenen Augen den Rücken gekehrt?
In „Kleider machen Leute“ findet Schneidergeselle Strapinski sein Glück.
„Wer sind Sie?“ „Ich bin nicht ganz so, wie ich scheine!“
Und hier haben wir es wieder, das Wort Konstrukt.

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